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Kriegerische Zeiten: Siebzig Jahre deutsch-französische Geschichte im Zeitraffer

Entwicklung von der „Erbfeindschaft“ zu Aussöhnung und Freundschaft Deutschlands und Frankreichs an historischen Stätten erlebbar gemacht

Wer heute, wie 34 Seminarteilnehmer des Johannes-Albers-Bildungsforums, durch die Straßen der saarländischen Kleinstadt Saarlouis schlendert, vielleicht etwas verwundert die zweisprachigen Wegweiser wahrnimmt und hin und wieder hört, wie sich französische Sprachfetzen in die traditionell in moselfränkischer Mundart geführten Unterhaltungen der Saarlouiser und ihrer Gäste aus dem nahen Lothringen mischen, der wird möglicherweise nicht glauben wollen, dass diese landschaftlich so reizvolle Gegend um Saarlouis zwischen 1870 und 1945 zum Schauplatz dreier erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Franzosen wurde, die alle ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Tod und Vernichtung für alle Beteiligten mit sich brachten.

Heute, gerade mal ein knappes Menschenalter nachdem die Waffen in diesem Teil Europas verstummten, leben die Menschen dies- und jenseits der Grenze, deren genauer Verlauf nach dem Vertrag von Schengen nur noch von Ortskundigen auszumachen ist, in friedlicher Nachbarschaft zusammen. Im nahegelegenen Dorf Leidingen, durch das seit über zweihundert Jahren die Grenze zwischen beiden Ländern verläuft, registrierten die Seminarteilnehmer mit Erstaunen, dass auf der westlichen Seite der Hauptstraße französische Mitbürger, auf deren östlicher hingegen deutsche wohnen.

Im hundertsten Jahr nach Ende des für die weitere geschichtliche Entwicklung in Europa so bedeutsamen Ersten Weltkriegs veranstaltete das Bildungsforum erstmals ein Seminar in Saarlouis, um gewissermaßen „vor Ort“ der Frage auf den Grund zu gehen, wie Deutsche und Franzosen sich innerhalb der kurzen Zeitspanne von gerade mal siebzig Jahren dreimal auf’s Äußerste bekriegen konnten und es danach gleichwohl geschafft haben, sich auszusöhnen, Freundschaft zu schließen und die unselige Vergangenheit (nahezu) vergessen zu machen.

Eigentlich beginnt die „deutsch-französische Geschichte“ bereits im frühen Mittelalter. Helmut Grein, Kreisarchivar, Historiker und profunder Kenner der Geschichte seiner saarländischen Heimat und des gesamten Grenzgebiets, der mit seinen informativen und anschaulichen Vorträgen für die historischen Grundlagen des Seminarthemas sorgte, ging einführend dabei zurück bis zur Aufteilung des ehemaligen Frankenreichs Karls des Großen 843 n. Chr. unter seinen drei Enkeln, was unter Historikern heutzutage als der Ausgangspunkt der Entstehung Frankreichs, Deutschlands und Lothringens gilt. Anders als die beiden erstgenannten war Lothringen jedoch keine lange staatliche Unabhängigkeit beschieden; sehr schnell wurde es zur „Spielmasse“ seiner beiden großen Nachbarn, die sich ständig wechselweise Teile von ihm einverleibten, und damit eine Ursache für die folgenden jahrhundertelangen Zwistigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich legten, die wegen jeweiliger territorialer Ansprüche der Kontrahenten zumeist kriegerisch ausgetragen wurden.

Im „Musée de la Guerre de 1870 et de l’Annexion“ (1870er-Kriegs- und Annexionsmuseum) im lothringischen Örtchen Gravelotte, selbst Schauplatz einer verlustreichen Schlacht zwischen preußischen und französischen Truppen im August 1870, erfuhren die Seminarteilnehmer in einer deutschsprachigen Führung beispielsweise, dass nicht nur die auf die Schaffung eines deutschen Nationalstaats ausgerichtete Politik des preußischen Ministerpräsidenten Bismarck, sondern auch die territorialen Ansprüche Deutschlands auf das Elsaß und Teile Lothringens als wesentliche Gründe für diesen letzten der sogenannten „Reichseinigungskriege“ gesehen werden müssen.

Bismarck erreichte beides: Der militärische Sieg der Preußen und ihrer deutschen Verbündeten über Frankreich gipfelte in der Proklamation des (neuen) deutschen Kaiserreichs am 18.01.1871, ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, und im Friedensschluss von Frankfurt am 10.05.1871 wurden das Elsaß und Teile Lothringens von Frankreich abgetrennt und als sogenanntes „Reichsland“ unmittelbar dem deutschen Kaiser unterstellt und somit faktisch von Deutschland annektiert.

Beides, die mit dem symbolträchtigen Ort der Ausrufung des deutschen Kaiserreichs im Schloss Ludwigs XIV. verbundene, von wenig politischer Weitsicht zeugende Demütigung des französischen Volkes sowie der damit einhergehende schmerzliche Verlust des Elsaß und von Teilen Lothringens werden heute als wesentliche Ursachen für den folgenden Krieg gesehen, der als Erster Weltkrieg und als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ in die Geschichte einging.

Kein Ort seiner vielen Kriegsschauplätze hat sich dabei so bestimmend und bildhaft im kollektiven Gedächtnis des deutschen und des französischen Volkes geradezu „eingebrannt“ wie die lothringische Kleinstadt Verdun. Um sie herum tobte von Februar bis Dezember 1916 eine Schlacht, die heute wie kaum eine zweite für den „industrialisierten Krieg“, seine „Materialschlachten“ mit ihren bisher unvorstellbaren Artilleriebombardements, Flammenwerfer- und Giftgasangriffen und damit für den hunderttausendfachen, letztlich jedoch sinnlosen Opfertod junger französischer und deutscher Soldaten steht.

Diego Voigt, Politikwissenschaftler und Oberstleutnant der Reserve führte die Seminargruppe zu ausgewählten Stätten des einstigen Schlachtfelds, an denen sowohl Entstehung und Verlauf dieser Schlacht als auch strategische und moralische Fragwürdigkeit sowie das ungeheure Leiden der beteiligten Soldaten nachvollziehbar wurden. Nach Besuch des „Mémorial de Verdun“, des völlig zerstörten – und wie acht weitere nie wieder aufgebauten – Dorfs „Fleury“ und des „Forts de Douaumont“ waren der Besuch der zentralen französischen Kriegsgräberstätte mit ihren dort bestatteten über 16.000 Gefallenen und des deutschen Soldatenfriedhofs Hautecourt zweifellos emotionale Höhepunkte und erinnerten an das geflügelte Wort Jean-Claude Junckers „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“

Am 06.09.2018 nahm Helmut Grein in seinen Vorträgen die Seminargruppe mit in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und referierte über die politischen Ziele und Maßnahmen, mit denen man in Frankreich dem eventuellen Versuch Deutschlands, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zu seinen eigenen Gunsten zu „revidieren“, begegnen wollte und stellte dem gegenüber, wie die innenpolitischen Vorgänge in Deutschland zur gleichen Zeit genau auf diese Revisionsabsichten hinausliefen.

Denn auch am Ende dieses Krieges setzte ein Sieger – diesmal Frankreich – seine Kriegsziele rigoros durch: Nach dem Friedensvertrag von Versailles(!), der im besiegten Deutschland, das von den Verhandlungen ausgeschlossen worden war, überwiegend als Friedensdiktat wahrgenommen wurde, wurde das „Reichsland Elsaß-Lothringen“ von Deutschland abgetrennt und erneut Frankreich angeschlossen. Daneben bereiteten aber auch eine ganze Reihe weiterer Gebietsabtretungen (z. B. Saargebiet, Nordschleswig, Oberschlesien, Westpreußen, Posen etc.), die erzwungene Entmilitarisierung des Rheinlandes sowie außergewöhnlich hohe Reparationszahlungen, die von Deutschland wirtschaftlich nicht zu leisten waren, wiederum den Nährboden für verschiedene politische Kräfte im nunmehr demokratischen Deutschland, die eine Revidierung des so betitelten „Schandfriedens von Versailles“ auch mit militärischen Mitteln, zu erreichen bereit waren.

Und auch in Frankreich registrierte man diese Entwicklung nicht ohne Sorge und suchte sich nach Möglichkeit vor deutschen „revanchistischen“ Handlungen zu schützen. Kriegsminister André Maginot, selbst ehemaliger „Verdun-Kämpfer“, betrieb einen beispiellosen Bau befestigter Bunkeranlagen entlang Frankreichs Nord- und Ostgrenzen, die nach ihm benannte „Maginot-Linie“, um damit einem befürchteten großangelegten Angriff Deutschlands widerstehen zu können.

Eines der größten, nahezu intakten Festungswerke dieser Linie, die „Ouvrage du Hackenberg“ suchte die Seminargruppe im nahegelegenen, lothringischen Veckring auf, um sich dort selbst ein Bild von den gigantischen Ausmaßen dieses Bunkers und den Möglichkeiten seiner Bewaffnung zur Abwehr eines aus Osten vorgetragenen Angriffs deutscher Truppen zu machen. Letztlich mussten sich diese und alle anderen Festungsanlagen der Maginot-Linie aber nie als Abwehrbollwerk beweisen, da es nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland am 03.09.1939 nicht zu größeren Kampfhandlungen, sondern nur zu dem in Deutschland als „Sitzkrieg“ bekannt gewordenen, gegenseitigen „Belauern“ der Truppen dies- und jenseits der Grenze kam und der Ausbruch größerer militärischer Feindseligkeiten erst im Mai 1940 erfolgen sollte.

Im Zuge des später von Churchill so bezeichneten „Sichelschnitt-Plans“, der gewagten Operationsplanung des späteren Generalfeldmarschalls von Manstein, stießen die deutschen Truppen im Bereich der Ardennen genau in der Lücke durch, die sich zwischen den nordwestlich konzentrierten französischen Truppen und den stärksten Befestigungswerken der Maginot-Linie in Lothringen auftat und konnten so binnen weniger Tage den Feldzug gegen Frankreich für sich entscheiden. Die Kapitulation Frankreichs wurde von den Deutschen im Wald von Compiègne in dem Eisenbahnwagen entgegengenommen, der an gleicher Stelle bereits die Bühne für die deutsche Kapitulation nach dem ersten Weltkrieg abgegeben hatte und eigens zu dieser erneuten Kapitulation – diesmal der Franzosen – aus einem Museum herbeigeschafft worden war.

Wiederum folgten darauf die Abtrennung von Elsaß und Teilen Lothringens, die unter dem Titel „Gau Westmark“ – zusammen mit der Pfalz und dem Saarland – unter deutsche Verwaltung gestellt wurden.

Aber auch dies sollte nicht lange Bestand haben. Das Kriegsglück wendete sich und die Wehrmacht geriet an allen Fronten in die Defensive, bis sie gegen Ende des Jahres 1944 sowohl im Osten als auch im Westen schon auf deutschem Boden einen aussichtslosen Kampf gegen überlegene Gegner kämpfte, die von Deutschland kompromisslos die „Bedingungslose Kapitulation“ verlangten. Damit war der Krieg nach Deutschland zurückgekehrt.

Am letzten Tag des Seminars referierte Helmut Grein deshalb unter dem Titel: „Die Front kehrt nach Deutschland zurück: Das Schicksal der Zivilbevölkerung zwischen Bleiben und Räumung“ über die schweren Kämpfe im Winter 1944/’45 in Saarlouis und ging dabei dezidiert auf die Lage der Zivilbevölkerung ein, der auch eine erneute Evakuierung – wie schon 1939/’40 – drohte, die aber infolge der Kriegswirren nicht mehr organisiert werden konnte. Die Front „rollte“ über sie hinweg und hinterließ zerstörte Häuser und Dörfer im Grenzgebiet.

Auch von diesen Vorgängen konnten die Seminarteilnehmer authentische eigene Eindrücke gewinnen. Die Besichtigung eines in unmittelbarer Nachbarschaft des Seminar-Hotels und mitten im bebauten Gebiet gelegenen Bunkers des „Westwalls“ bezeugte anschaulich die katastrophalen Auswirkungen der längst nutzlosen, aber gleichwohl mit äußerster Verbissenheit geführten Abwehrkämpfe an der Grenze des „Deutschen Reichs“ in den letzten Kriegsmonaten.

Am Ende des Seminars stand bei den Teilnehmern die Erkenntnis, dass es trotz dieser drei erbittert geführten kriegerischen Auseinandersetzungen, denen sie im Seminar an Originalschauplätzen nachspüren konnten, und trotz ihrer immensen historischen Hypotheken den beiden Völkern innerhalb nur eines knappen Menschenalters gelungen ist, sich zu versöhnen, Freundschaft zu schließen und gemeinsam zu treibenden, politischen Kräften des europäischen Einigungsprozesses zu werden.

Nirgends wird diese ebenso unerwartete wie glückliche Entwicklung so deutlich wie im Saarland, das im letzten Jahrhundert mehrmals zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergerissen wurde und nunmehr gewissermaßen eine natürliche Brückenfunktion Deutschlands zum westlichen Nachbarn einnimmt.

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